EGMR, Urt. v. 7.7.2022 - 81292/17

Recht auf Achtung des Privatlebens/Meinungsfreiheit - Slowakei: Absolutes Verbot pornografischer Druckerzeugnisse in Haft

Das absolute Verbot von pornografischen Erzeugnissen in Haft stellt keinen Eingriff in die freie Meinungsäußerung dar, verstößt aber gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens. (Chocholáč gegen Slowakei)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer verbüßt wegen Mordes eine lebenslange Haftstrafe in einem slowakischen Gefängnis. In dem Land ist es Gefängnisinsassen verboten, pornografisches Material (das in der Slowakei allgemein erlaubt ist) zu besitzen. Bei einer Routinedurchsuchung der Einzelzelle des Beschwerdeführers wurden Bilder aus Erwachsenenmagazinen gefunden, die „klassischen“ heterosexuellen Geschlechtsverkehr zwischen Erwachsenen zeigten. Das Material wurde als pornografisch und damit als Gefahr für die Sittlichkeit im Sinne des slowakischen Strafvollzugsgesetzes eingestuft. Das Material wurde dem Beschwerdeführer abgenommen, und er wurde eines Disziplinarvergehens für schuldig befunden, wofür er einen Verweis erhielt. Er legte erfolglos Widerspruch ein; seine Verfassungsbeschwerde wurde insbesondere aus den Gründen, dass Pornografie zu Sexual- und Gewaltdelikten führen könne und das einschlägige Gesetz in dieser Frage absolut sei, zurückgewiesen: Das Gesetz lasse keinen Raum für eine Abwägung zwischen dem Verbot solchen Materials und dem Recht des Einzelnen auf Information. Der Beschwerdeführer berief sich vor dem EGMR, wie auch vor dem innerstaatlichen Verfassungsgericht, auf die Art. 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) und 10 (Meinungsfreiheit) der EMRK.

Die Gründe:
Der EGMR prüfte den Sachverhalt lediglich am Maßstab des Art. 8 EMRK, nicht jedoch auch des Art. 10 EMRK. Die Tatsache, dass das betreffende Gefängnissystem keine ehelichen Besuche zulasse, sei Teil des Kontextes, in dem die beanstandete Beschränkung der Fähigkeit des Beschwerdeführers, ein Sexualleben zu führen, zu sehen sei. Unter diesen Umständen falle der Sachverhalt des vorliegenden Falles in den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK. Die Beschlagnahme des Materials beim Beschwerdeführer und der Verweis, den er wegen des Besitzes dieses Materials erhalten hatte, stellten daher einen Eingriff in dieses Recht dar.

Eine Begründung, warum Art. 10 EMRK vorliegend nicht einschlägig sei, legte der Gerichtshof nicht vor. In seiner abweichenden Meinung lehnte Richter Derenčinović den Prüfungsmaßstab, wie vom EGMR bestimmt, mit Blick auf den vorliegenden Sachverhalt ab.

Der EMGR bezweifelte, dass die beanstandete Maßnahme tatsächlich eines der von der Regierung angeführten legitimen Ziele, nämlich den Schutz der Sittlichkeit, die Aufrechterhaltung der Ordnung und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, verfolgt hatte. Er bezog dazu jedoch keine Stellung, da die Maßnahme bereits nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei. Dies ergebe eine, durch das innerstaatliche Verfassungsgericht nicht vorgenommene, Abwägung der aufgeführten staatlichen Ziele mit dem Interesse an einem autoerotischen Sexualleben auf Seiten des Beschwerdeführers, wozu Pornografie als Anreiz dienen könne. Insbesondere betonte der EGMR, dass es nicht nur keinen Hinweis darauf gebe, dass das fragliche Material Elemente enthielt, die als solche gesetzlich verboten sind, sondern dass vielmehr derartiges Material durch die allgemeine Verbreitung als Presseerzeugnis an die erwachsene Bevölkerung im beklagten Staat und darüber hinaus allgemein zugänglich sei.
Das Material sei in der Privatsphäre des Beschwerdeführers aufbewahrt worden und ausschließlich für seinen persönlichen und privaten Gebrauch in dieser Sphäre bestimmt gewesen, insbesondere in seiner Zelle, die er allein bewohnt habe. Der Staat habe keine konkreten Beispiele angeführt, die die Behauptung stützen, dass der Besitz von Inhalten für Erwachsene, wie im Fall des Beschwerdeführers, tatsächlich Risiken in Bezug auf die öffentliche Moral mit sich gebracht hätte. Zudem lägen im Beschwerdeführer keine Gründe vor, die ein Verbot wie das vorliegend angefochtene in seinem Falle rechtfertigen würden, etwa eine Verurteilung wegen eines Sexualdelikts oder das Leiden an einem Zustand, bei dem das fragliche Material gewalttätiges oder anderweitig unangemessenes Verhalten auslösen könne.

Das relativ geringe Strafmaß, das gegen den Beschwerdeführer verhängt worden war, sei vorliegend nicht entscheidend, da der Kern des Problems das zugrunde liegende Verbot und nicht die Sanktion sei. Das angefochtene Verbot stelle aber eine allgemeine und willkürliche Beschränkung dar, die die erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall nicht zulasse.

Der EGMR bejahte mit 5:2 Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.08.2022 09:51
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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