EGMR v. 22.12.2020 - 14305/17 [Große Kammer] (Selahattin Demirtaş gegen Türkei)

Türkei: Verhaftung und Untersuchungshaft eines Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP konventionswidrig

Die Verhaftung und andauernde Untersuchungshaft des Beschwerdeführers, einem der Ko-Vorsitzenden der linken pro-kurdischen türkischen Demokratischen Volkspartei (HDP), verletzt Art. 10 (sowie Art. 5 Abs. 1, 3 und 4, Art. 18 i.V.m. 5 EMRK sowie Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls). Die sofortige Freilassung sei durch die Türkei sicherzustellen.

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war zwischen 2007 und 2018 Mitglied der Türkischen Nationalversammlung und kandidierte erfolglos bei den Präsidentschaftswahlen 2014 und 2018. Nach angeblich von der kurdischen PKK verübten Terroranschlägen und bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK und Sicherheitskräften kam es zu zahlreichen Verhaftungen pro-kurdischer Politiker, darunter am 4.11.2016 der Beschwerdeführer wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung und öffentlicher Aufforderung zur Begehung einer Straftat. Zuvor war durch eine Verfassungsänderung durch die Nationalversammlung vom 20.5.2016 die parlamentarische Immunität (auch) dieser Politiker in allen (154) Fällen aufgehoben worden, in denen entsprechende Anträge bereits zuvor an die Nationalversammlung übermittelt worden waren.

Alle Widersprüche des Beschwerdeführers gegen seine Untersuchungshaft wurden abgelehnt; erst eine zweite Beschwerde zum Verfassungsgericht hatte im Juni 2020 Erfolg. Zwischenzeitlich war der Beschwerdeführer wegen einer anderen Angelegenheit rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden; daneben war ein weiteres Verfahren gegen ihn eröffnet worden, weswegen er sich weiterhin in erneuter Untersuchungshaft befindet. In der Zwischenzeit war am 20.11.2018 ein Kammerurteil des EGMR ergangen; sowohl Beschwerdeführer als auch Regierung beantragten die Verweisung an die Große Kammer.

Die Gründe:
Im Hinblick auf das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung konzentrierte sich der EGMR auf die Frage, ob es eine ausreichende Rechtsgrundlage für den Eingriff gegeben hatte. So hätten die innerstaatlichen Gerichte es unterlassen zu prüfen, ob die politischen Reden des Beschwerdeführers, die als Beweis seiner terrorismusbezogenen Tätigkeiten geltend gemacht wurden, durch die in der türkischen Verfassung vorgesehene parlamentarische Immunität gedeckt gewesen seien.

Daneben stellte der EGMR fest, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Beschwerdeführers infolge der Verfassungsänderung vom 20.5.2016 und die daraus resultierende anfängliche und fortgesetzte Untersuchungshaft sowie das gegen ihn aufgrund von Beweisen, die seine politischen Reden umfassten, eingeleitete Strafverfahren wegen terrorismusbezogener Straftaten, nicht im Sinne von Art. 10 EMRK gesetzlich vorgesehen gewesen seien. Die Änderung werfe ein Problem hinsichtlich der Vorhersehbarkeit auf; es handele sich um eine einmalige und in der türkischen Verfassungstradition beispiellose ad-homines-Änderung, die einen Missbrauch des Verfassungsänderungsverfahrens dargestellt habe. Der Beschwerdeführer habe aber bei der Verteidigung eines politischen Standpunkts legitimer Weise erwarten können, in den Genuss des geltenden verfassungsrechtlichen Rahmens zu kommen, der den Schutz der Immunität für politische Äußerungen und verfassungsmäßige Verfahrensgarantien geboten hatte.

Der EGMR war schließlich der Ansicht, dass eine derart weite Auslegung einer strafrechtlichen Bestimmung, wonach politische Äußerungen als ausreichend angesehen werden, um eine aktive Verbindung zu einer bewaffneten Organisation anzunehmen, nicht gerechtfertigt werden kann, wenn sie dazu führt, dass die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit der Zugehörigkeit zu einer bewaffneten terroristischen Organisation, der Bildung oder der Führung einer solchen Organisation gleichgesetzt wird, ohne dass es konkrete Beweise für eine solche Verbindung gibt.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.03.2021 14:56
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M., Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken

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