EGMR, Urt. v. 21.9.2021 - 61737/08

Meinungsfreiheit - Armenien: Verhinderung der Veröffentlichung einer Zeitung durch Regierung während Ausnahmezustands konventionswidrig

Das Vorliegen eines "öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht", kann nicht als Vorwand dienen, um die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken, die zum Kern des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft gehört. (Dareskizb Ltd gegen Armenien)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist ein armenisches Unternehmen und war zum maßgeblichen Zeitpunkt Verlegerin einer in dem Land herausgegebenen und der damaligen politischen Opposition nahestehenden Tageszeitung. Sie war während des zwanzigtägigen Ausnahmezustands wegen der blutigen oppositionellen Proteste nach den armenischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2008 behördlich an der Veröffentlichung ihrer Zeitung gehindert worden.

Mit dem zum 1.3.2008 verhängten Ausnahmezustand waren u.a. Beschränkungen für die Medien einhergegangen. In der Nacht vom 3. auf den 4.3.2008 verhinderten Beamte der Staatssicherheit den Druck der Zeitung der Beschwerdeführerin, ohne dafür einen Grund zu nennen. Daraufhin verzichteten die Herausgeber zehn Tage lang auf die Veröffentlichung. Ein daraufhin vorgesehener Veröffentlichungsversuch wurde erneut von Beamten der Staatssicherheit untersagt, und erst mit Aufhebung des Ausnahmezustands konnte die Zeitung wieder erscheinen. Klagen vor innerstaatlichen Gerichten gegen die Verhinderung der Veröffentlichung und zugrundeliegende Ermächtigungsbestimmungen sowie zur Geltendmachung eines Vermögensschadens blieben allesamt wegen behaupteter Unzulässigkeit erfolglos.

Die Gründe:
Einleitend hielt der Gerichtshof fest, dass der von Armenien verhängte Ausnahmezustand nicht den Anforderungen des Art. 15 Abs. 1 EMRK entsprochen habe, nach dem Europarats-Staaten unter engen Voraussetzungen von den in der EMRK vorgesehenen Verpflichtungen abweichen können, mit der Folge, dass unter den gegebenen Umständen Art. 10 EMRK vollumfänglich zu beachten war.

Der EGMR erklärte, dass die Maßnahmen das legitime Ziel gehabt hätten, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Straftaten zu verhüten. Er stellte fest, dass zwar ein Gesetz hätte erlassen werden müssen, um die verfassungsmäßige Befugnis des armenischen Präsidenten, den Ausnahmezustand auszurufen, zu definieren, ließ aber die Frage, ob die Verhängung des Ausnahmezustands dennoch rechtmäßig gewesen war, offen.

Pflichten und Verantwortung, die mit der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung durch Medienschaffende einhergingen, hätten in Konflikt- und Spannungssituationen besondere Bedeutung. Auch das Vorliegen eines „öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht“, könne nicht als Vorwand dienen, um die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken, die zum Kern des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft gehöre. Auch im Ausnahmezustand sollten alle Maßnahmen darauf abzielen, die demokratische Ordnung vor den Bedrohungen zu schützen, denen sie ausgesetzt ist.

Der Gerichtshof stellte in diesem Sinne fest, dass die Veröffentlichung der Zeitung ohne Angaben von Gründen verhindert worden war, obwohl ihr Inhalt keine Hassreden oder Aufstachelung zu Unruhen enthalten habe. Die Verhinderung sei nur erfolgt, weil die Zeitung staatlichen Stellen gegenüber kritisch eingestellt gewesen war und regierungskritisches Material gedruckt hatte. Somit habe die Beschränkung der Veröffentlichung keinen anderen Zweck als die Einschränkung der Kritik an der Regierung gehabt. Sie habe dazu geführt, die politische Debatte zu unterdrücken und abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen und somit gegen den Kern des durch die Konvention geschützten Rechts auf freie Meinungsäußerung einschließlich des Rechts auf Informationsvermittlung verstoßen. Damit habe sie dem eigentlichen Zweck von Art. 10 EMRK widersprochen und sei in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Zudem wurde ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf faires Verfahren) bejaht.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 21.10.2021 11:07
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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