EGMR, Urt. v. 3.2.2022 - 39325/20

Meinungsfreiheit - Kroatien: Verweigerung des Zugangs zu Unterlagen des Staatspräsidenten

Es besteht ein weiter Ermessensspielraum des Staates bei Entscheidungen über Fragen der nationalen Sicherheit. (Šeks gegen Kroatien)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist ein früherer hochrangiger kroatischer Politiker. Für Recherchen zu einem von ihm verfolgten Sachbuchprojekt über die Gründung der Republik Kroatien beantragte er beim kroatischen Staatsarchiv unter anderem Zugang zu als „Staatsgeheimnis – streng vertraulich“ eingestuften Unterlagen des kroatischen Staatspräsidenten. Das Präsidialamt verweigerte aus Gründen der nationalen Sicherheit die Freigabe der vertraulichen Dokumente, und der Antrag wurde diesbezüglich abgelehnt. Der Zugang zu anderen Unterlagen, die den größeren Teil des angeforderten Materials ausmachten, wurde hingegen gewährt. Die Entscheidung des Präsidenten, die Freigabe einiger der beantragten Dokumente zu verweigern, beruhte auf einer Stellungnahme des Büros des Nationalen Sicherheitsrates, eine mit Fragen der nationalen Sicherheit befasste kroatische Behörde, welche der Ansicht war, dass die betreffenden Dokumente die Unabhängigkeit, die Integrität, die nationale Sicherheit und die Außenbeziehungen des Landes beeinträchtigen könnten. Die Entscheidung des Präsidialamts wurde vom – von dem Beschwerdeführer eingeschalteten – Informationsbeauftragten, einer unabhängigen Stelle, die für den Schutz, die Überwachung und die Förderung des Rechts auf Zugang zu Informationen zuständig ist, vom Oberverwaltungsgericht und vom kroatischen Verfassungsgericht überprüft und bestätigt.

Die Gründe:
Unter Rückgriff auf die in seiner Rechtsprechung festgelegten Kriterien für das Recht auf Zugang zu staatlich verwahrten Informationen war der EGMR davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer als ehemaliger Politiker, der eine historische Monografie veröffentlichen wollte, sein Recht auf Weitergabe von Informationen über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ausgeübt und zu diesem Zweck den Zugang zu verfügbaren Informationen beantragt habe. Art. 10 EMRK sei somit anwendbar.

Die Verweigerung des Zugangs des Beschwerdeführers zu den angeforderten Dokumenten sei ein gesetzlich vorgesehener Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung gewesen, der die legitimen Ziele des Schutzes der Unabhängigkeit, der Integrität und der Sicherheit Kroatiens und seiner Außenbeziehungen verfolgt habe.

Zur Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, stellte der Gerichtshof fest, dass es im Gegensatz zu früheren Rechtssachen, die den Zugang zu personenbezogenen Informationen betrafen, im vorliegenden Fall um Verschlusssachen ging, die einen sensiblen Teil der jüngeren Geschichte Kroatiens betrafen, der noch immer Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte sei. Da die nationale Sicherheit ein sich entwickelndes und kontextabhängiges Konzept sei, müsse einem Staat bei der Beurteilung dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Risiko für seine nationale Sicherheit darstelle, ein breiter Ermessensspielraum eingeräumt werden. Gleichzeitig müssten die Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Sicherheit“ zurückhaltend angewandt und restriktiv ausgelegt werden und dürften nur dann herangezogen werden, wenn es sich als notwendig erwiesen habe, die Veröffentlichung von Informationen zum Schutz der nationalen und öffentlichen Sicherheit zu verhindern. Zudem könne im Bereich der nationalen Sicherheit von den zuständigen Behörden nicht erwartet werden, dass sie ihre Argumentation so ausführlich wie in gewöhnlichen Zivil- oder Verwaltungsverfahren darlegen, da eine ausführliche Begründung für die Verweigerung der Freigabe von streng geheimen Dokumenten leicht dem Zweck zuwiderlaufen könne, zu dem diese Informationen überhaupt als vertraulich eingestuft wurden.

Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf freien Zugang zu Informationen sei im Hinblick auf das Ziel der nationalen Sicherheit notwendig und verhältnismäßig gewesen, und die anschließende unabhängige und sorgfältige innerstaatliche Überprüfung seines Antrags habe ihm ausreichende Verfahrensgarantien geboten und sei innerhalb des weiten Ermessensspielraums des Staates bei der Entscheidung über solche Fragen geblieben. Zudem habe der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde zum kroatischen Informationsbeauftragten nicht dargelegt, warum sein Interesse am Zugang zu den fraglichen Informationen entscheidende öffentliche Interessen überwog. Somit könne nicht gesagt werden, dass die Art und Weise, in der die inländischen Behörden seinen Antrag geprüft hatten, grundlegend fehlerhaft gewesen sei, dass es an angemessenen Verfahrensgarantien gefehlt habe oder dass die Behörden es versäumt hätten, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, wie es das inländische Recht verlange.

Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.02.2022 11:27
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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