EGMR, Urt. v. 25.1.2022 - 27684/17

Meinungsfreiheit - Türkei: Mehrfacher Verstoß gegen EMRK durch Untersuchungshaft von Deniz Yücel

Der EGMR verurteilt die Türkei erneut wegen Verletzung von Art. 10 der EMRK. (İlker Deniz Yücel gegen Türkei)

Der Sachverhalt:
Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um den bekannten deutsch-türkischen Journalisten İlker Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der deutschen Tageszeitung „Welt“. Yücel war nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 im Zusammenhang mit seiner journalistischen Tätigkeit wegen des Verdachts der Verbreitung von Propaganda zugunsten einer terroristischen Vereinigung und der Aufstachelung zu Hass und Feindseligkeit von Februar 2017 an für annähernd ein Jahr in der Türkei in Untersuchungshaft genommen worden. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Deutschland zurück. Das türkische Verfassungsgericht stellte am 28. Mai 2019 fest, dass Yücel in seinem Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit (sowie auf Freiheit und Sicherheit) verletzt worden war und sprach ihm eine Entschädigung in Höhe von 3.700 Euro für den ihm entstandenen immateriellen Schaden sowie von 400 Euro für Kosten und Auslagen zu. Im Juli 2020 wurde Yücel vom Istanbuler Gerichtshof wegen behaupteter Verbreitung von Propaganda für die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), eine bewaffnete terroristische Vereinigung, zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft verurteilt.

Die Gründe:
Der Gerichtshof verwies zunächst auf das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts vom 28. Mai 2019, war jedoch der Auffassung, dass der dort zuerkannte Betrag insbesondere im Lichte der Dauer der Untersuchungshaft offensichtlich unzureichend war und dass Yücel somit weiterhin behaupten könne, ein Opfer im Sinne von Artikel 34 EMRK zu sein.

Mit Blick auf die in Art. 10 EMRK verankerte Meinungs- und Pressefreiheit stellte der Gerichtshof fest, dass die Inhaftierung von Yücel, erneut auch vor dem Hintergrund ihrer Dauer, einen Eingriff in die Ausübung dieses seines Rechts dargestellt habe. Dieser Eingriff sei bereits nicht gesetzlich vorgesehen gewesen, da es keine tatsächlichen Anhaltspunkte für den Verdacht gegeben habe, dass Yücel eine Straftat begangen habe, wie es die türkische Strafprozessordnung verlange. Die Inhaftierung von Yücel habe somit nicht auf plausiblen Gründen für den Verdacht einer Straftat beruht. Daraus folge, dass der Eingriff in seine Rechte und Freiheiten nicht gerechtfertigt werden konnte. Bereits das türkische Verfassungsgericht habe festgehalten, dass eine derart schwerwiegende Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft nicht als notwendiger und verhältnismäßiger Eingriff angesehen werden könne und daher einen Verstoß gegen die Vorgaben der türkischen Verfassung festgestellt. In Anbetracht dieser Argumentation war der EGMR der Ansicht, dass es keinen Grund gebe, zu einer anderen Schlussfolgerung hinsichtlich der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft zu gelangen als das türkische Verfassungsgericht.

Der Gerichtshof unterstrich, dass Untersuchungshaft für Personen, die sich kritisch äußern, in mehrfacher Hinsicht negative Auswirkungen sowohl auf den Inhaftierten als auch auf die Gesellschaft als Ganzes haben könne. Die Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßnahme wie in diesem Fall habe nämlich immer eine abschreckende Wirkung auf die freie Meinungsäußerung, indem sie die Zivilgesellschaft einschüchtere und die Stimmen Andersdenkender zum Schweigen bringe.

Der EGMR stellte mit fünf zu zwei Stimmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Daneben bejahte er mit gleicher Stimmenmehrheit auch eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Abs. 5 (Anspruch auf Schadensersatz) der Konvention. Ferner stellte der EGMR mit vier zu drei Stimmen fest, dass keine Verletzung von Art. 5 Absatz 4 der Konvention (Recht auf rasche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eine Inhaftierung) vorliege, auch wenn der Beschwerdeführer keinen Zugang zu den Ermittlungsakten hatte. Zugleich ordnete der Gerichtshof eine Zahlung von 12.300 EUR netto für immateriellen Schaden und 1.000 EUR netto für Kosten und Auslagen an.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.02.2022 11:31
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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