EGMR, Urt. v. 1.3.2022 – 16695/19 (Kozan gegen Türkei)

Meinungsfreiheit – Türkei: Disziplinarstrafe gegen Richter wegen Teilens eines Presseartikels in sozialen Medien

Die Freiheit eines Richters, Informationen in einem für sein Berufsleben entscheidenden Bereich weiterzugeben oder zu erhalten, umfasst die eine Kommentierungsmöglichkeit umfassende Mitteilung bestimmter in der Presse vertretener Ansichten über die Unabhängigkeit der Justiz an seine Kollegen.

Der Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war Richter in der Türkei. Er hatte im Mai 2015 ohne eigenen Kommentar in einer privaten Facebook-Gruppe mit etwa 9.000 Mitgliedern, die sich primär an ein Fachpublikum aus dem Justizwesen richtete, aber auch Akademikern, Jurastudenten und -absolventen sowie Rechtsanwälten offen stand, einen am Vortag veröffentlichten Presseartikel geteilt. Dieser betraf ein Gerichtsverfahren wegen Korruptionsverdachts und den Widerstand der Regierung gegen dieses Verfahren. In dem Artikel wurden bestimmte Entscheidungen des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) kritisiert und dessen Unabhängigkeit von der Exekutive in Frage gestellt. Wegen des Teilens des Artikels wurde gegen den Beschwerdeführer durch den HSYK eine Disziplinarstrafe in Form eines Verweises verhängt. Er habe sich in einer Weise verhalten, die die Würde und das Vertrauen, die sein Amt erfordere, sowohl innerhalb als auch außerhalb seines beruflichen Umfelds untergrabe. Unabhängig vom vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer nach dem Putschversuch vom Juli 2015 aus seinem Amt entfernt und wegen behaupteter Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation zu einer Haftstrafe verurteilt.

Die Gründe:

Der Gerichtshof bejahte in seinem Urteil zur Frage einer Verletzung der Meinungsfreiheit zunächst das Vorliegen einer Rechtsgrundlage für die disziplinarische Maßnahme und das von der Konvention als legitim anerkannte Ziel der Aufrechterhaltung der Autorität und Unparteilichkeit der Justiz, das mit dem Verweis verfolgt worden war.

Er stellte weiter fest, dass der fragliche Presseartikel Teil einer Debatte von besonderem Interesse für Justizangehörige war, da er die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richter gegenüber der Exekutive im Hinblick auf die Ereignisse im Zusammenhang mit einem gerichtlichen Verfahren und den Widerstand der Regierung dagegen betraf. Für die in dem Artikel geäußerten Werturteile habe eine ausreichende Tatsachengrundlage vorgelegen. Dass ein Richter seinen Kollegen bestimmte in der Presse vertretene Ansichten über die Unabhängigkeit der Justiz mitteilt und ihnen ermöglicht, darauf zu antworten, sei von seiner Freiheit, Informationen in einem für sein Berufsleben entscheidenden Bereich weiterzugeben oder zu erhalten, gedeckt.

Auch sei der Artikel nicht mit der Öffentlichkeit geteilt worden, sondern in einer Diskussionsgruppe, die einem Fachpublikum vorbehalten und für die Öffentlichkeit geschlossen war. Die Annahme des HSYK, der Beschwerdeführer habe durch sein Handeln die Absicht gezeigt, der Öffentlichkeit eine Botschaft der Billigung des Inhalts des Artikels zu vermitteln, sei daher zurückzuweisen. Andernfalls dürften Richter in einem geschlossenen Rezipientenkreis nur Artikel teilen, die Verwaltungs- und Justizbehörden lobten, und wären zugleich verpflichtet, Beiträge wegzulassen, die Handlungen und Entscheidungen dieser Behörden missbilligten. Dies würde zu einer unnötigen Selbstzensur bei der Erörterung von Fragen führen, die den Kern des Berufs der Richter betreffen. Außerdem sei deutlich, dass die Verhängung einer Disziplinarstrafe gegen einen Justizbeamten naturgemäß eine abschreckende Wirkung nicht nur auf den Betroffenen, sondern auch auf den Berufsstand insgesamt habe.

Vorliegend habe der HSYK die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers einerseits und seine Pflicht zur Verschwiegenheit als Richter andererseits nicht angemessen gegeneinander abgewogen. Diese Tatsache müsse vor dem Hintergrund bewertet werden, dass der HSYK ein außergerichtliches Organ sei und seine Verfahren nicht die Garantien einer gerichtlichen Überprüfung böten, so dass der Beschwerdeführer gegen die Maßnahme keinen Rechtsbehelf habe einlegen können. Der HSYK sei gleichzeitig Strafverfolgungs- und letztinstanzliche Entscheidungsbehörde gewesen. Es sei außerdem zu berücksichtigen, dass bei der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen Richter das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Funktionieren der Justiz auf dem Spiel stehe. Jeder Richter, gegen den ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, müsse vor Willkür geschützt werden.

Die gegen den Beschwerdeführer verhängte Disziplinarmaßnahme habe im Ergebnis keinem dringenden sozialen Bedürfnis entsprochen und sei somit keine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme gewesen.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Daneben bejahte er einstimmig eine Verletzung von Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) iVm Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.04.2022 13:11
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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