EGMR, Urt. v. 24.3.2022 – 25479/19 (Wikimedia Foundation gegen Türkei)

Meinungsfreiheit – Türkei: Unzulässige Individualbeschwerde nach bereits erfolgter Wiedergutmachung für Wikipedia-Sperre

Die Beschwerde der Wikimedia Foundation zum EGMR ist unzulässig.

Der Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin ist eine Stiftung mit Sitz in den USA. Sie widmet sich dem freien Austausch von Wissen durch die Wikimedia-Projekte, deren Ziel die Entwicklung einer kollektiven, universellen und mehrsprachigen Online-Enzyklopädie ist, die kostenlos zur Verfügung steht. Die dem Büro des türkischen Premierministers unterstellte Generaldirektion für Sicherheit wies im April 2017 die Direktion für Telekommunikation und Informationstechnologie (TİB) an, die Entfernung mehrerer Seiten von der Website der Beschwerdeführerin in die Wege zu leiten. Diese forderte die Beschwerdeführerin daraufhin auf, fünf URLs innerhalb von vier Stunden zu entfernen. Da es technisch aber nicht möglich war, nur bestimmte Seiten zu sperren, erfolgte anschließend die Anordnung durch die TİB, den Zugang zur gesamten Website zu sperren.

Nachdem dagegen eingelegte Rechtsmittel zunächst erfolglos blieben, bejahte das türkische Verfassungsgericht am 26. Dezember 2019 einen Verstoß gegen Art. 26 der türkischen Verfassung (Recht auf freie Meinungsäußerung). Die Sperrung habe nicht auf einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis beruht, ihre Begründung sei unzureichend gewesen, und sie habe einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung dargestellt. Der Fall wurde zur Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel, den Verstoß zu beheben, an das zuständige Amtsgericht zurückverwiesen. Außerdem wurden der Beschwerdeführerin 2.732,50 Türkische Lira (nach damaligem Kurs etwa 415 Euro) für Kosten und Auslagen zugesprochen. Nach der Zustellung des Urteils des Verfassungsgerichts am 15. Januar 2020 hob das zuständige Amtsgericht die Anordnung zur Sperrung des Zugangs zur gesamten Wikipedia-Seite unverzüglich auf. Die Beschwerde zum EGMR wegen der Sperranordnung war bereits am 29. April 2019 eingereicht worden.

Die Gründe:

Der Gerichtshof wies auf seine Entscheidungspraxis in Fällen zu Art. 10 EMRK hin, wonach eine Beschwerde zum innerstaatlichen Verfassungsgericht als ein Rechtsbehelf anzusehen sei, der im Sinne von Art. 35 Abs. 1 EMRK vor einer Beschwerde zum EGMR zur Erschöpfung aller zur Verfügung stehenden nationalen Rechtsschutzmöglichkeiten eingelegt werden müsse.

Das in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfene Problem habe zwar systemischen Charakter. Allerdings verfüge der EGMR nicht über hinreichend aussagekräftige Informationen, die darauf schließen ließen, dass das türkische Verfassungsgericht nicht in der Lage sei, das durch den Fall gestellte Problem zu lösen und dass eine individuelle Beschwerde zum Verfassungsgericht ungeeignet sei, der Beschwerdeführerin angemessenen Rechtsschutz zu gewähren. Vielmehr habe dieses mehrere Urteile die Sperrung von Websites betreffend erlassen und insbesondere festgestellt, dass die Sperrung des Zugangs zu einer gesamten Website eine außergewöhnliche Maßnahme darstelle. Im Zuge dessen habe es zahlreiche Kriterien aufgestellt, die von den nationalen Behörden und den mit der Prüfung von Sperrungsverfügungen befassten Gerichten zu beachten seien. Darüber hinaus stünden dem Verfassungsgericht für den Fall, dass sich ein Problem als systemisch erweist, geeignete Mittel zur Verfügung, wie etwa das Pilotverfahren als Alternative zur bloßen Feststellung eines Verstoßes in einem bestimmten Fall. Ebenso sei es bei der Behandlung einer individuellen Beschwerde befugt, die Vorhersehbarkeit der streitgegenständlichen Rechtsbestimmung zu bewerten und gegebenenfalls festzustellen, dass diese den Anforderungen an die „Qualität des Gesetzes“ nicht genüge.

Der EGMR betonte, dass vorliegend vom türkischen Verfassungsgericht festgestellt worden war, dass die angeordnete Sperrung nicht auf einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis beruht habe, unzureichend begründet gewesen sei und einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung dargestellt habe. Somit habe das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung über die ihm vorliegende Beschwerde der Wikimedia Foundation eine Verletzung von Art. 10 EMRK im Wesentlichen anerkannt und den Schaden, der der Beschwerdeführerin entstanden ist, aus Sicht des EGMR angemessen und ausreichend wiedergutgemacht. Zwar sei das Urteil des Verfassungsgerichts zwei Jahre und acht Monate nach Einreichung der individuellen Beschwerde ergangen, was einen langen Zeitraum darstelle. Dieser sei aber, insbesondere in Anbetracht dessen, was in dieser Rechtssache auf dem Spiel stand, nicht offensichtlich übermäßig lang gewesen. Der EGMR betont jedoch, dass eine schnelle gerichtliche Überprüfung von Maßnahmen, die ohne zeitliche Begrenzung ergriffen werden und eine große Menge an Informationen unzugänglich machen, somit die Rechte von Internetnutzern erheblich beeinträchtigen und einen erheblichen Kollateraleffekt haben, unter den Umständen des vorliegenden Falles von großem Interesse sei.

Der Gerichtshof stellte daher fest, dass die Beschwerdeführerin nicht länger den für eine zulässige Beschwerde beim EGMR erforderlichen Opferstatus beanspruchen könne und die erforderliche Wiedergutmachung für eine Verletzung von Konventionsrechten bereits erfolgt sei. Die Beschwerde erfülle daher nicht (mehr) die Zulässigkeitsvorgaben der EMRK. Der EGMR wies die Beschwerde daher mehrheitlich als unzulässig zurück. Gegen Unzulässigkeits-Beschlüsse sind keine weiteren Rechtsmittel möglich.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.04.2022 13:14
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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