EGMR v. 17.1.2023 - 8964/18

Meinungsfreiheit - Deutschland: Abdruck einer Gegendarstellung in der Tageszeitung "Die Welt"

Der EGMR verneint einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK wegen Verurteilung zum Abdruck einer Gegendarstellung. (Axel Springer SE gegen Deutschland)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin, die Axel Springer SE, ist ein Verlagshaus mit Sitz in Berlin. Sie ist Herausgeberin u.a. der Tageszeitung Die Welt. Am 4.10.2013 erschien in dieser Zeitung auf Seite 8 ein Artikel mit der Überschrift „Die Stasi-Frau an Gregor Gysis Seite“. Gysi war zu dieser Zeit Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzender der Partei Die Linke. In dem Artikel wurde behauptet, dass K., die Geschäftsführerin der Partei, Agentin des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR (Stasi) gewesen sei; außerdem wurde darin das Verschwinden großer Vermögenswerte der in der DDR herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nach dem Fall des kommunistischen Regimes 1989 angesprochen. Der Verlag wurde eine Woche darauf von K. aufgefordert, eine Gegendarstellung zu dem Artikel zu veröffentlichen, in der K. insbesondere erklärte, dass sie nicht am Verschwinden von SED-Vermögen beteiligt gewesen sei. Nach der Weigerung des Verlags erhob K. Klage, die jedoch abgewiesen wurde. Das Gericht stellte fest, dass der Artikel sie nicht tatsächlich mit dem Verschwinden von SED-Vermögen in Verbindung gebracht habe und die Tatsache, dass der Text in dieser Weise interpretiert werden könne, keine Richtigstellung rechtfertige. Das von K. angerufene Berufungsgericht verpflichtete das beschwerdeführende Unternehmen zur Veröffentlichung einer inhaltlich abgeänderten Gegendarstellung, die den im Laufe des Verfahrens seitens des Berufungsgerichtes geäußerten Bedenken Rechnung trug, wies jedoch K.s Forderung nach deren Platzierung auf der Titelseite zurück. Obwohl in dem Artikel nicht ausdrücklich behauptet worden war, dass K. SED-Parteivermögen verheimlicht habe, war das Berufungsgericht der Ansicht, dass ein durchschnittlicher Leser zu einer solchen Schlussfolgerung gelangen würde und dass sie ein Recht auf eine Erwiderung habe. Die beantragte Gegendarstellung wurde am 3.2.2014 in der Welt veröffentlicht. Eine Beschwerde zum BVerfG wurde 2017 abgewiesen.

Die Gründe:
Der EGMR stellte einleitend fest, dass der Eingriff in die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin eine Rechtsgrundlage in § 10 des Berliner Pressegesetzes hatte und dem Schutz des guten Rufs von K. diente. Offen war, ob der Eingriff i.S.d. Art. 10 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, d.h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprochen hatte und verhältnismäßig, sachdienlich und gerechtfertigt gewesen war.

Mit Blick auf das Recht zur Gegendarstellung bekräftigte der Gerichtshof, dass dieses in erster Linie darauf abziele, dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben, gegen falsche Informationen vorzugehen, die in der Presse über ihn veröffentlicht wurden. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) abgewogen werden müsse, verdienten beide Vorschriften gleiche Achtung und gleichen Spielraum.

Hinsichtlich des klagegegenständlichen Artikels befand der EGMR, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung des Artikelinhalts die verschiedenen Aussagen darin berücksichtigt habe, wonach K.s Name mit dem Verschwinden von SED-Parteivermögen in Verbindung stehe, aber keine Beweise für ihre Beteiligung an kriminellen Aktivitäten vorlägen. Das Berufungsgericht habe den Inhalt des Artikels ausführlich und gut begründet gewürdigt, und es gebe keine Anzeichen für Willkür in seiner Auslegung. Außerdem habe die beantragte Gegendarstellung in einem ausreichenden Zusammenhang mit dem betreffenden Artikel gestanden und sei unverzüglich beantragt worden.

Dass K. sich geweigert hatte, Fragen des Verlags zum Sachverhalt vor der Veröffentlichung des Artikels zu beantworten, könne seitens der Beschwerdeführerin nicht als gültiges Argument vorgetragen werden. Die Presse müsse zwar nach Treu und Glauben berichten, um im Einklang mit der journalistischen Ethik verlässliche und präzise Informationen zu liefern und müsse Betroffenen die Möglichkeit geben, sich zu verteidigen. Die Tatsache, dass Anschuldigungen dem Betroffenen zuvor mitgeteilt wurden, gebe der Presse aber nicht die uneingeschränkte Freiheit, unbestätigte Anschuldigungen zu veröffentlichen. Ebenso wenig werde das Recht der betroffenen Person auf Gegendarstellung dadurch verwirkt.

Der EGMR wies darauf hin, dass das Berufungsgericht die Auffassung vertreten hatte, dass der Zeitungsartikel die Verbindung von K. zu Unternehmen mit angeblichen Verbindungen zur SED detailliert dargestellt habe und die in ihrer Gegendarstellung enthaltenen Informationen ihrem Umfang nach dementsprechend nicht unverhältnismäßig seien. Zu berücksichtigen sei auch, dass das Berufungsgericht K.s Antrag auf Abdruck der Richtigstellung auf der Titelseite der Welt zurückgewiesen und stattdessen den Abdruck auf der gleichen Seite, auf der der streitige Originalartikel veröffentlicht war, angeordnet hatte.

Das Berufungsgericht habe die in der Rechtsprechung des EGMR niedergelegten Grundsätze und Kriterien für die Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und dem Recht auf freie Meinungsäußerung gebührend berücksichtigt. Es bestehe kein Grund, seine Beurteilung in Frage zu stellen oder ihr zu widersprechen.

Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.01.2023 14:45
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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