EGMR v. 24.1.2023 - 54714/17

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens / Meinungsfreiheit – Russland: Durchsuchung der Wohnung von Journalisten und wahllose Beschlagnahmung ihrer persönlichen Gegenstände

Der EGMR bejaht eine Verletzung insbesondere der Art. 8 und 10 EMRK wegen der wahllosen Beschlagnahme persönlicher Gegenstände von Journalisten im Rahmen einer Durchsuchung ihrer Wohnung. (Svetova u.a. gegen Russland)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind die Mitglieder einer russischen Familie, Eltern und drei Söhne, die allesamt Journalisten und Aktivisten sind bzw. waren. Am Morgen des 28. Februar 2017 erschien die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl in der Moskauer Wohnung der Beschwerdeführer. Diese behaupten, dass sie erst einige Stunden später nach der Ankunft ihrer Anwälte erfuhren, dass der Durchsuchungsbefehl im Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Ermittlung aus dem Jahr 2003 gegen Michail Chodorkowski, ehemals einer der reichsten Unternehmer Russlands, und seine Mitarbeiter stand. Die Mutter der Familie, Frau Svetova, hatte zuvor für die von Chodorkowski gegründete gemeinnützige Stiftung „Offenes Russland“ gearbeitet. Bei der Durchsuchung beschlagnahmte die Polizei elektronische Geräte und andere persönliche Gegenstände, die bis zum Urteil des EGMR nicht zurückgegeben worden waren. Zudem wurden Informationen von Frau Svetovas Computer heruntergeladen, darunter auch ihre journalistische Arbeit mit Interviews und anderen Materialien. Die Beschwerdeführer versuchten erfolglos, vor Gericht Beschwerde gegen die Durchsuchung einzulegen. Die innerstaatlichen Gerichte lehnten es ab, die Beschwerden über die Rechtmäßigkeit und die Art und Weise der Durchführung der Durchsuchungs- und Beschlagnahmungsmaßnahmen zu prüfen und verwiesen darauf, dass diese Fragen zu einem späteren Zeitpunkt in einem Strafverfahren gegen Herrn Chodorkowski untersucht werden würden.

Vorbemerkungen des EGMR:
Wegen des Ausschlusses der Russischen Föderation aus dem Europarat war kein russischer Richter an der Prüfung des Falls beteiligt. Zudem hatte sich die Regierung Russlands zu dem Verfahren nicht geäußert. Der EGMR bestätigte, dass ein Staat, der mangels Mitgliedschaft im Europarat nicht mehr Vertragspartei der EMRK ist, in Bezug auf Handlungen zu einem Zeitpunkt, als er noch Vertragspartei war, nicht von seinen Verpflichtungen aus der Konvention entbunden ist. Vorliegend hätten sich die Tatsachen, die zu den von den Beschwerdeführern behaupteten Verletzungen der EMRK geführt haben, vor dem in Bezug auf Russland einschlägigen Stichtag der rechtlichen Auswirkungen des Ausschlusses, dem 16. September 2022, zugetragen, womit der EGMR für die Prüfung dieser Tatsachen zuständig sei. Daraus folge auch, dass es kein Hindernis für diese Prüfung darstellen könne, dass sich die Regierung des Staats, gegen den sich vorliegende Beschwerde richtet, nicht auf das Verfahren eingelassen hatte.

Allerdings solle das Versäumnis einer Partei, sich tatsächlich zu beteiligen, nicht automatisch zur Anerkennung der Vorträge der Beschwerdeführer führen. Der Gerichtshof müsse sich anhand der vorliegenden Beweise vergewissern, dass der Vortrag in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet ist. Im vorliegenden Fall nahm der EGMR seine Prüfung auf der Grundlage des Vorbringens der Beschwerdeführer vor. Dieses wurde als zutreffend angesehen, sofern es durch die verfügbaren Beweise gestützt wurde.

Die Gründe:
Der EGMR stellte fest, dass die Beschwerdeführer keiner Straftat beschuldigt oder verdächtigt worden waren. Der Durchsuchungsbefehl für ihre Wohnung habe ein 14 Jahre zuvor eingeleitetes Strafverfahren betroffen, in dem sie keinen Verfahrensstatus gehabt hätten. Der Gerichtshof sei daher nicht davon überzeugt, dass der Durchsuchungsbeschluss auf einen begründeten Verdacht gestützt war, dass in der Wohnung der Beschwerdeführer Gegenstände gefunden werden könnten, die auf kriminelle Aktivitäten hinweisen. Die im Durchsuchungsprotokoll angegebenen Gründe, die den Wortlaut des Durchsuchungsbefehls widerzuspiegeln schienen, könnten nicht als relevant oder ausreichend akzeptiert werden, da sie keinen Hinweis auf eine mögliche Verbindung zwischen den Beschwerdeführern und dem Strafverfahren gegen Dritte enthielten. Auch ließe der Zeitrahmen des Durchsuchungsbefehls (Erlass 14 Jahre nach der Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Dritte und Vollstreckung 40 Tage nach Erlass), für den es keine Erklärung gebe, Zweifel an seiner Nützlichkeit für die Ermittlungen aufkommen.

Schließlich sei der Durchsuchungsbefehl so allgemein und weit gefasst gewesen, dass die Polizei über einen uneingeschränkten Ermessensspielraum bei der Bestimmung der zu beschlagnahmenden Gegenstände und Unterlagen verfügt habe. Auf der Grundlage dieses zu weit gefassten Ermessens seien eine Vielzahl persönlicher Gegenstände der Beschwerdeführer beschlagnahmt worden. Eine solche wahllose Beschlagnahme könne nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden.

Daneben könne nicht ausgeschlossen werden, dass mit solch weit gefassten und vagen Maßnahmen tatsächlich die Absicht verfolgt wurde, die journalistischen Quellen von Frau Svetova aufzudecken. Es habe daher eine Beeinträchtigung ihrer journalistischen Arbeit vorgelegen, die ebenfalls nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei.

Zu bemängeln sei schließlich, dass die Beschwerdeführer keine wirksame Überprüfung der Rechtmäßigkeit und der Art und Weise, wie die Durchsuchung und Beschlagnahme durchgeführt wurde, erreichen konnten.

Der EGMR bejahte demnach einstimmig eine Verletzung von Art. 8 und 10 EMRK sowie von Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) i.V.m. Art. 8 EMRK.
 

 

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.04.2023 16:50
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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