EGMR v. 23.4.2023 - 6950/13

Recht auf Achtung des Privatlebens - Aserbaidschan: Zeitungsartikel mit herabsetzenden Äußerungen über Chefarzternennung in einem Krankenhaus

Die aserbaidschanischen Gerichte haben es versäumt, eine angemessene Abwägung zwischen dem Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens und dem Recht einer Zeitung auf freie Meinungsäußerung vorzunehmen. (Abbasaliyeva gegen Aserbaidschan)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin, eine aserbaidschanische Staatsangehörige, war im Jahr 2011 zur Chefärztin der Ambulanz eines Krankenhauses ernannt worden. Dies zog in den folgenden Wochen die Veröffentlichung von insgesamt vier Artikeln über die Beschwerdeführerin in einer aserbaidschanischen Zeitung nach sich, in denen es hieß, dass sie die Ernennung nicht verdiene, weil ihr Bruder wegen der Beteiligung an einem versuchten Staatsstreich im Jahr 1995 verurteilt worden sei. Der Bruder, Regionalleiter einer Sonderpolizeitruppe, war damals zum Tode verurteilt worden; nach der Abschaffung der Todesstrafe in Aserbaidschan im Jahr 1998 wurde sein Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt, die er zum Zeitpunkt des Urteils des EGMR noch verbüßte. Die Beschwerdeführerin wurde nach den Veröffentlichungen von ihrem Posten als Chefärztin entlassen und kehrte auf ihren vorherigen Posten als Ärztin zurück. Sie klagte erfolglos sowohl gegen ihren Arbeitgeber auf Wiedereinsetzung als Chefärztin und Erstattung des Verdienstausfalls als auch gegen die Zeitung auf Widerruf, Entschuldigung und Schadensersatz.

Die Gründe:
Der EGMR prüfte die Beschwerde getrennt nach der möglichen Rufschädigung durch die Artikel und der Entlassung der Beschwerdeführerin. Aus formellen Gründen wurde letzterer Teil der Beschwerde für unzulässig erklärt.

Mit Blick auf die beschwerdegegenständlichen Artikel hielt der EGMR einleitend fest, dass es im vorliegenden Fall nicht um eine Handlung des Staates ging, sondern um den angeblich unzureichenden Schutz, den die innerstaatlichen Gerichte der Beschwerdeführerin in Bezug auf ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens gewährt hatten. Die positive Verpflichtung aus Art. 8 EMRK könne den Staat jedoch dazu verpflichten, Maßnahmen zu ergreifen, die dazu bestimmt sind, die Achtung des Privatlebens zu gewährleisten, auch im Bereich der Beziehungen der Personen untereinander. Ob das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens oder das Recht der Zeitung auf Meinungsfreiheit überwiege, sei anhand der im Urteil Couderc und Hachette Filipacchi Associés gegen Frankreich [Große Kammer] (EGMR v. 10.11.2015 – 40454/07, dort Rn. 83–93) aufgestellten Kriterien zu ermitteln, nämlich insbesondere, ob die Veröffentlichung zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beigetragen hat, der Bekanntheitsgrad der Beschwerdeführerin in der Gesellschaft, ihr früheres Verhalten sowie Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung.

Die beschwerdegegenständlichen Artikel hätten nichts enthalten, was die beruflichen Fähigkeiten der Beschwerdeführerin als Ärztin betraf, oder irgendeine Andeutung, dass sie für den Posten der Chefärztin ungeeignet sei, weil es ihr an den erforderlichen Fähigkeiten fehle, oder dass sie während ihrer Laufbahn irgendeine illegale oder unprofessionelle Handlung begangen habe. Es sei lediglich um ihre Eigenschaft als Schwester ihres verurteilten Bruders gegangen. Unter diesen Umständen konnte der EGMR nicht erkennen, wie diese Artikel und insbesondere die darin enthaltenen Äußerungen zu einer Debatte über eine Frage von öffentlichem Interesse hätten beitragen können. Der Hauptzweck aller Artikel sei vielmehr gewesen, die Beschwerdeführerin anzugreifen.

Auch habe die Beschwerdeführerin selbst nie die Öffentlichkeit gesucht. Die Tatsache, dass eine Person zur Kategorie der öffentlichen Bediensteten gehört, könne die Medien in keiner Weise dazu ermächtigen, die beruflichen und ethischen Grundsätze zu verletzen, die ihr Handeln bestimmen müssen, oder Eingriffe in das Privatleben zu legitimieren, auch wenn diese Personen offizielle Funktionen ausüben. Die innerstaatlichen Gerichte hätten begründen müssen, warum die bloße Tatsache, Arzt zu sein, den zu erwartenden Schutz des Rechts der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens mindere.

Zu berücksichtigen sei zudem u.a., dass die Artikel den Mädchennamen der Beschwerdeführerin verwendet hatten, um ihre familiäre Bindung zu ihrem Bruder zu betonen, obwohl sie diesen Namen nach ihrer Heirat abgelegt hatte. Auch vor diesem Hintergrund stellte der EGMR fest, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht ordnungsgemäß geprüft hätten, ob die über die Beschwerdeführerin getätigten Äußerungen mit der journalistischen Ethik vereinbar waren und ob sie die zulässigen Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten hatten. Eine angemessene Abwägung zwischen dem Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens und dem Recht der Zeitung auf freie Meinungsäußerung sei nicht vorgenommen worden.

Der EGMR bejahte demnach einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.05.2023 10:34
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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