EGMR v. 30.5.2023 - 39954/09 und 3465/17

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - Russland: Homophobe Äußerungen von Staatsbeamten gegenüber Mitgliedern der LGBTI-Gemeinschaft

Der EGMR betont, dass Politiker es vermeiden müssten, in ihrer öffentlichen Rede Hass oder Intoleranz zu fördern. (Nepomnyashchiy u.a. gegen Russland)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer in beiden Beschwerden sind Aktivisten der LGBTI-Gemeinschaft und selbst homosexuell.

Der Beschwerde 39954/09 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 16. Mai 2008 veröffentlichte eine überregionale russische Zeitung ein Interview mit dem damaligen Gouverneur des Gebiets Tambow. Dieser äußerte sich herablassend über Homosexuelle, die er unter Verwendung herabwürdigender Terminologie unter anderem als „pervers“ bezeichnete. Sie müssten „in Stücke gerissen und die Stücke in den Wind geschleudert werden“. Dagegen erhoben drei der Beschwerdeführer mit dem Argument, die Äußerung komme einem Aufruf zur Gewalt gegen Homosexuelle gleich, Strafantrag wegen Volksverhetzung. Dieser blieb wie die dagegen eingelegten Rechtsmittel erfolglos. Insbesondere seien Homosexuelle keine „soziale Gruppe“, womit sie keinem einschlägigen Schutz unterlägen.

Der Beschwerde 3465/17 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Nach einem gewalttätigen Angriff auf das St. Petersburger Büro der LGBTI-Unterstützungsorganisation der Beschwerdeführerin veröffentlichte eine lokale Nachrichten-Website ein Interview mit M., einem Mitglied des St. Petersburger Stadtrates, dem die betroffene Organisation zuvor wegen seiner öffentlichen Äußerungen über Homosexuelle eine Mitschuld an dem Angriff gegeben hatte. Darin bezeichnete M. das Büro der Organisation als „homosexuelles Höllenloch“ und Homosexuelle als „Geisteskranke“ und „Perverse“, die Angriffe auf sich selbst provoziert hätten. Homosexueller Geschlechtsverkehr sei so „abstoßend“, „ekelhaft“ und „unmoralisch wie Mord“. Die Beschwerdeführerin erhob auch hier unter gleichlautender Argumentation Strafantrag, der aus gleichgelagerten Gründen ebenfalls erfolglos blieb. Auch eine auf Unterlassung der Äußerungen gerichtete Zivilklage der Beschwerdeführerin gegen M. hatte keinen Erfolg.

Die Gründe:
Der EGMR betonte eingangs das Erfordernis eines gerechten Ausgleichs zwischen den konkurrierenden Interessen, hier das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Diskriminierungsverbot gegenüber der Meinungsfreiheit, und den den Staaten zustehenden Ermessensspielraum. Der Gerichtshof müsse das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Privatlebens gegen das öffentliche Interesse am Schutz der Meinungsfreiheit abwägen, wobei zu berücksichtigen sei, dass zwischen den genannten Rechten kein hierarchisches Verhältnis bestehe.

Äußerungen, die Gewalt, Hass oder Intoleranz in ihren schwersten Formen fördern oder rechtfertigen, seien vom Schutz des Art. 10 EMRK völlig ausgeschlossen. Weniger schwerwiegende Formen von Hassreden fielen zwar nicht völlig aus dem Schutz von Art. 10 EMRK heraus, doch sei es den Konventionsstaaten gestattet, sie einzuschränken. Es könne gerechtfertigt sein, in Fällen von Hassreden oder Aufstachelung zur Gewalt selbst strafrechtliche Sanktionen zu verhängen. Von entscheidender Bedeutung sei es, dass Politiker es vermieden, in ihrer öffentlichen Rede Hass oder Intoleranz zu fördern. Sie müssten besonders darauf achten, die demokratischen Grundsätze zu verteidigen, da ihr oberstes Ziel darin bestehe, die Macht zu übernehmen. Dies gelte zumindest in gleichem Maße auch für hochrangige Beamte, deren öffentliche Äußerungen als offizieller Standpunkt des Staates wahrgenommen werden könnten.

Mit Blick auf die Effektivität des innerstaatlichen Rechtssystems kam der EGMR zu dem Schluss, dass das russische Recht sowohl zivilrechtliche Mechanismen als auch strafrechtliche Bestimmungen zum Schutz des Privatlebens einer Person vor stigmatisierenden Äußerungen, einschließlich homophober Äußerungen, enthält. Er äußerte jedoch Zweifel an deren Wirksamkeit in der Praxis, da die Regierung das Vorhandensein einer ständigen innerstaatlichen Praxis nicht nachgewiesen habe.

Hinsichtlich der Prüfung der Anträge der Beschwerdeführer durch die innerstaatlichen Behörden hielt der Gerichtshof fest, dass selbst wenn man davon ausginge, dass das russische Recht den Schutz des Privatlebens der einzelnen Mitglieder einer sozialen Gruppe vor stigmatisierenden Äußerungen über diese soziale Gruppe vorsieht, die entsprechenden innerstaatlichen Bestimmungen aufgrund der Vorgehensweise der russischen Behörden im Fall der Beschwerdeführer nicht angewandt worden seien und den Beschwerdeführern der erforderliche Schutz nicht gewährt worden sei. Die innerstaatlichen Behörden seien ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, angemessen auf die diskriminierenden Äußerungen zu reagieren und die Achtung des Privatlebens der Beschwerdeführer zu gewährleisten. Insbesondere habe die ohne überzeugende Gründe vorgenommene Weigerung, LGBTI-Personen als soziale Gruppe anzuerkennen zur Folge gehabt, Äußerungen, die zu Hass oder Feindseligkeit gegen sie aufstacheln oder ihre Würde verletzen, aus dem Anwendungsbereich des Straftatbestands der Volksverhetzung herauszunehmen, womit den Beschwerdeführern der Schutz dieser Bestimmung versagt geblieben sei. Die innerstaatlichen Behörden hätten damit das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Privatlebens und ihr Recht auf Schutz vor Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung und Geschlechtsidentität nicht anerkannt.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.06.2023 12:01
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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