EGMR v. 6.6.2023 - 63029/19

Meinungsfreiheit - Türkei: Strafe gegen Richterin wegen eines Zeitungsinterviews

In ihrer Rolle als Generalsekretärin der Richtergewerkschaft hat die Beschwerdeführerin nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich zu Fragen der Funktionsweise der Justiz zu äußern. (Sarısu Pehlivan gegen Türkei)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin war zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt Richterin und daneben Generalsekretärin der türkischen Richtergewerkschaft, eine Organisation zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und zur Wahrung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richterschaft. Nachdem die Türkei 2017 im Zuge einer Verfassungsänderung wesentliche Änderungen an der Organisation der Justiz einführte, veröffentlichte eine nationale Tageszeitung in ihrer Printausgabe und auf ihrer Website ein Interview mit der Beschwerdeführerin. Sie äußerte sich kritisch und befürchtete, dass die Verfassungsänderung ein autoritäres Regime einführe. Daraufhin verhängte der Rat der Richter und Staatsanwälte (CJP) gegen die Beschwerdeführerin eine Disziplinarstrafe in Form einer Geldstrafe in Höhe von zwei Tagesgehältern. Dagegen vor dem Obersten Gerichtshof eingelegte Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.

Die Gründe:
Der EGMR stellte eingangs fest, dass die Beschwerdeführerin Richterin war, als sie die beschwerdegegenständlichen Äußerungen tätigte. Es bestehe kein Zweifel daran, dass diese besondere Stellung ihr aufgrund ihres Beitrags zur ordnungsgemäßen Rechtspflege und damit zum Vertrauen der Öffentlichkeit in diese eine Pflicht als Garantin der individuellen Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit auferlegte. Somit habe die Beschwerdeführerin die ihrer Stellung als Richterin innewohnende Pflicht zur Verschwiegenheit und Zurückhaltung zu beachten gehabt. Zugleich habe sie aber als Generalsekretärin der Richtergewerkschaft, eine Organisation, die sich für die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz einsetze, auch eine Rolle als Akteurin der Zivilgesellschaft übernommen, und in dieser Rolle habe sie das beschwerdegegenständliche Interview gegeben. Angesichts der Funktion der Organisation als sozialer Wächter habe die Beschwerdeführerin als Generalsekretärin einer rechtmäßig gegründeten Gewerkschaft, die ihre Tätigkeit weiterhin frei ausübe, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht gehabt, sich zu Fragen der Funktionsweise der Justiz zu äußern, einschließlich der Verfassungsreformen, die Auswirkungen auf die Justiz und deren Unabhängigkeit haben könnten. Damit habe sie sich mit ihren Äußerungen eindeutig an einer Debatte über Fragen von öffentlichem Interesse beteiligt, die ein hohes Schutzniveau rechtfertige. Die politischen Bezüge der Äußerungen der Beschwerdeführerin zu den betreffenden Themen reichten für sich genommen nicht aus, um die Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit als Generalsekretärin der Richtergewerkschaft in einem Bereich zu rechtfertigen, der das Wesen ihres Berufs berühre.

Zwar könne die im vorliegenden Fall verhängte Sanktion des Abzugs von zwei Tagesgehältern als relativ mild angesehen werden. Die Verhängung dieser Sanktion habe ihrem Wesen nach aber eine abschreckende Wirkung nicht nur auf die Beschwerdeführerin selbst, sondern auch auf die Justiz insgesamt und insbesondere auf diejenigen Richter gehabt, die sich an öffentlichen Debatten über Gesetzes- oder Verfassungsreformen beteiligen wollten, die Auswirkungen auf die Justiz oder auf allgemeinere Fragen im Zusammenhang mit ihrer Unabhängigkeit haben könnten.

Zu den Verfahrensgarantien, auf die die Beschwerdeführerin Anspruch hatte, stellte der EGMR fest, dass die Begründung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Verhängung der Sanktion als solche keine Argumente enthielt, die geeignet waren, das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung und ihre Pflicht zur Zurückhaltung als Richterin angemessen abzuwägen. Eine solche Abwägung sei auch nicht in den die Beschwerdeführerin betreffenden Entscheidungen des CJP erkennbar gewesen. In diesem Zusammenhang betonte der EGMR, dass der CJP vorliegend sowohl als Anklagebehörde als auch als letzte Entscheidungsinstanz in einer Angelegenheit gehandelt hatte, die seine eigene Zusammensetzung und Arbeitsweise betraf.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

 

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.06.2023 12:25
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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