EGMR v. 6.7.2023 - 21181/19 und 51751/20

Meinungsfreiheit - Polen: Ermittlungsverfahren wegen Äußerungen eines Richters in einer Fernseh-Nachrichtensendung

Die von den polnischen Behörden ergriffenen Maßnahmen können als eine Strategie bezeichnet werden, die darauf abzielte, einen Richter wegen seiner Ansichten einzuschüchtern oder sogar zum Schweigen zu bringen. (Tuleya gegen Polen)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist ein polnischer Richter, der sein Amt seit 1996 ausübt. Er setzt sich aktiv für die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in Polen ein. Gegen ihn wurden 2018 fünf Ermittlungsverfahren wegen möglichen disziplinarischen Fehlverhaltens eingeleitet. Die Untersuchungen betrafen unter anderem die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen und insbesondere Äußerungen, die er im Fernsehen im Zuge der von ihm erlaubten Aufzeichnung einer öffentlichen Gerichtssitzung getätigt hatte. In dem fraglichen Verfahren war es um angebliche parlamentarische Unregelmäßigkeiten, durch die Abgeordnete der Opposition daran gehindert worden waren, an einer Haushaltsdebatte teilzunehmen, gegangen. Dass der Beschwerdeführer den Medien die Aufzeichnung dieser Gerichtssitzung gestattet hatte, war daneben Gegenstand eines zum Zeitpunkt des Urteils des EGRM noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens. Die Immunität des Beschwerdeführers wurde aufgehoben, und er wurde von der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs bei reduzierten Bezügen von seinen Dienstpflichten suspendiert. Mit Ausnahme der Aufhebung der Immunität wurden die Maßnahmen später wieder aufgehoben; der Beschwerdeführer wurde wieder in sein Amt eingesetzt, sein Gehalt auf den vollen Betrag angepasst, und er erhielt eine Gehaltsnachzahlung. Keine der Ermittlungen haben zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Beschwerdeführer geführt. Er erklärte, dass er zu keinem Zeitpunkt darüber informiert worden sei, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Er behauptete weiterhin, dass er infolge der Ermittlungen gegen sich Gegenstand einer Verleumdungskampagne in den Medien gewesen sei, bei der beleidigende oder diskreditierende Informationen über ihn veröffentlicht oder gesendet wurden. Neben einer Verletzung von Art. 10 EMRK wegen des geschilderten Sachverhalts behauptete der Beschwerdeführer daneben wegen der anderen gegen ihn eingeleiteten Untersuchungen eine Verletzung auch von Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein faires Verfahren) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK.

Die Gründe:
Mit Blick auf Art. 10 EMRK bejahte der EGMR einen einschlägigen Eingriff, da es offenkundig sei, dass die entsprechenden Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer auf dessen Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung zurückzuführen waren. Zudem gebe es angesichts des allgemeinen Kontextes Grund zu der Annahme, dass die Aufhebung der Immunität des Beschwerdeführers eine verdeckte Sanktion für seine Kritik an der sukzessiven Justizreform in Polen gewesen war. Diese Schlussfolgerung sei unter anderem in der polnischen und internationalen Presse, vom Europarat sowie der Internationalen Richtervereinigung bekräftigt worden.

Die Beeinträchtigung sei nicht gesetzlich vorgesehen gewesen. Insbesondere sei der Beschwerdeführer nicht informiert worden, als die Ermittlungen zu dem Fernsehinterview und seiner Teilnahme an den ermittlungsgegenständlichen Versammlungen beendet wurden. Ohne ein solches Mindestmaß an Garantien seien Ermittlungsverfahren missbrauchsanfällig und könnten Richter davon abhalten, sich zu Fragen von öffentlichem Interesse zu äußern. Auch die Entscheidung, die Immunität des Beschwerdeführers aufzuheben und ihn von seinen dienstlichen Pflichten zu suspendieren, könne nicht als rechtmäßig angesehen werden, da die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die die Entscheidung getroffen habe, kein Gericht im Sinne der EMRK sei.

Schließlich verneinte der Gerichtshof mit klaren Worten, dass die Beeinträchtigung des Rechts des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung ein legitimes Ziel gehabt habe. Der Beschwerdeführer habe sich stets für die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz in Polen eingesetzt, ohne dabei über Kritik aus rein beruflicher Sicht hinauszugehen. Die von den Behörden ergriffenen Maßnahmen könnten als eine Strategie bezeichnet werden, die darauf abzielte, ihn wegen seiner Ansichten einzuschüchtern oder sogar zum Schweigen zu bringen. Diese Maßnahmen müssten nicht nur den Beschwerdeführer, sondern auch andere Richter davon abgehalten haben, sich an der öffentlichen Debatte über Gesetzesreformen, die das Justizwesen betreffen, und allgemeiner über Fragen der Unabhängigkeit der Justiz zu beteiligen.

Der EGMR bejahte mit 6:1 Stimmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Ebenso bejahte der EGMR mit 6:1 Stimmen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 8 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 21.08.2023 09:12
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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