EGMR v. 3.10.2023 - 14879/20 und 13440/21

Meinungsfreiheit - Türkei: Verurteilung "unter Aussetzung des Urteils"

Die strafrechtliche Verurteilung unter Aussetzung des Urteils für eine Bewährungsfrist stellt angesichts ihrer potenziell abschreckenden Wirkung eine Beeinträchtigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung dar. (Durukan und Birol gegen Türkei)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer, Baran Durukan (D.) und İlknur Birol (B.), sind türkische Staatsangehörige. D. war im Juli 2018 wegen Propaganda für eine terroristische Organisation zu einer Haftstrafe von einem Jahr, einem Monat und zehn Tagen verurteilt worden, weil er auf seinem Facebook-Konto Inhalte geteilt hatte, insbesondere Fotos und Texte mit den Worten „Es lebe der Widerstand in [bestimmten Gebieten der Türkei und Syrien]“ und „Es lebe Abdullah Öcalan“ (der inhaftierte Führer der in der Türkei illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)) (Beschwerde Nr. 14879/20). B. war im Mai 2019 zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt worden, weil sie den türkischen Präsidenten in einem auf ihrem Twitter-Account geposteten Tweet beleidigt hatte („Tayyip Erdoğan [Du] dreckiger Dieb“) (Beschwerde Nr. 13440/21). Die innerstaatlichen Gerichte beschlossen am Ende der jeweiligen Verfahren, die Urteile gegen die beiden Beschwerdeführer „auszusetzen“ und legten den Beschwerdeführern Bewährungsfristen auf. Demnach verfallen die Verurteilungen, und die Verfahren werden eingestellt, wenn während dieser Fristen – hier von drei bzw. fünf Jahren – keine vorsätzlichen Straftaten begangen werden. Anderenfalls werden die Urteile rechtskräftig. Rechtsmittel blieben ohne Erfolg. Das türkische Verfassungsgericht hat zwischenzeitlich in einem anderen vergleichbaren Sachverhalt Verstöße gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens festgestellt.

Die Gründe:
Der EGMR vertrat die Auffassung, dass die strafrechtlichen Verurteilungen unter Aussetzung der Urteile für eine Bewährungsfrist angesichts ihrer potenziell abschreckenden Wirkung eine Beeinträchtigung des Rechts der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung darstellten. Er verwies auf das einschlägige Urteil des türkischen Verfassungsgerichtes und die dort getroffene Feststellung, dass die fraglichen Rechtsvorschriften systemische Probleme aufwürfen, die zu wiederholten Verstößen gegen die Meinungsfreiheit führen könnten, und dass eine (vom Verfassungsgericht detailliert vorgeschlagene) Gesetzesänderung erforderlich sei, um diese Verstöße abzustellen. Der Gerichtshof betonte daneben die Aussage des Verfassungsgerichts, dass in der Praxis der innerstaatlichen Gerichte die Entscheidungen über die Aussetzung eines Urteils nicht auf angemessenen und ausreichenden Gründen beruhen würden und dass darüber hinaus mehrere weitere Verfahrensgarantien nicht gewährleistet seien. Daneben habe das Verfassungsgericht hervorgehoben, dass die geltenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften die abschreckende Wirkung der Urteilsaussetzung auf verschiedene Grundrechte von Angeklagten, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, nicht systematisch verhindern könnten.

Der Gerichtshof schloss sich den Feststellungen des türkischen Verfassungsgerichts an, wonach die innerstaatlichen Bestimmungen mangels angemessener Verfahrensgarantien zur Regelung des den innerstaatlichen Gerichten eingeräumten Ermessens bei der Aussetzung eines Urteils nicht den erforderlichen Schutz gegen einen willkürlichen Eingriff der staatlichen Behörden in die durch die EMRK garantierten Rechte bieten. Der EGMR vertrat wie das Verfassungsgericht die Auffassung, dass die Rechtsgrundlage für die geltend gemachten Beeinträchtigungen weder die Tragweite der Aussetzung des Urteils noch die Art und Weise ihrer Anwendung hinreichend klar definiere, um den Beschwerdeführern das in einer demokratischen Gesellschaft rechtsstaatlich gebotene Maß an Schutz zu bieten. Daraus folge, dass die fraglichen Beeinträchtigungen bereits nicht gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 10 EMRK waren.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.10.2023 15:19
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

zurück zur vorherigen Seite