EGMR v. 31.10.2023 - 9602/18

Meinungsfreiheit - Deutschland: Einstweilige Verfügung zu Bild-Nachtclub-Verhaftungsvideo in Bremen

Das generelle Verbot von Videomaterial auch für die Zukunft und unabhängig vom Berichterstattungskontext ist nicht mit Art. 10 EMRK vereinbar. (Bild GmbH & Co. KG gegen Deutschland)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin und Betreiberin der Nachrichten-Website bild.de und gibt die Zeitungen Bild und Bild am Sonntag heraus. Am 10. Juli 2013 wurde auf bild.de ein Artikel über einen Polizeieinsatz im Juni desselben Jahres in einem Nachtclub in Bremen wegen des angeblich aggressiven Verhaltens von A., einem Kunden, gegenüber dem Personal, veröffentlicht. Er trug den Titel „Tatort Disco - Hier verprügelte die Polizei Daniel A. (28)“. Dem Artikel war ein Video beigefügt, das zeigte, wie mehrere Polizeibeamte A. zu Boden zwangen, wobei einer der Beamten auf ihn eintrat und mit einem Schlagstock auf ihn einschlug, während A. auf dem Boden lag. Am folgenden Tag wurde auf der Website ein zweiter Artikel mit dem Titel „Protokoll der Prügel-Nacht“ veröffentlicht, der weiteres Filmmaterial enthielt, das A.s Verhalten vor dem Eintreffen der Beamten zeigte. In diesem Video war das Gesicht eines der Beamten, P., deutlich zu sehen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass P. übermäßige Gewalt angewendet hatte. Im Folgenden forderte er Bild auf, das Video zu entfernen, bis sein Gesicht unscharf dargestellt war. Bild weigerte sich, woraufhin P. das LG Oldenburg anrief. Dieses ordnete unter Bezug auf die Persönlichkeitsrechte des P. die Entfernung des Videos bis zur Unkenntlichmachung seines Gesichts an. Rechtsmittel zum OLG Oldenburg blieben erfolglos; eine gegen die Urteile gerichtete Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an.

Die Gründe:
Der EGMR stimmte mit dem LG dahingehend überein, dass es ein legitimes öffentliches Interesse an den Handlungen der Polizei als Institution gebe. Es sei jedoch wichtig anzuerkennen, dass die Veröffentlichung des Fotos eines Polizeibeamten unter bestimmten Umständen nachteilige Folgen für dessen Privatleben haben könnte, was die innerstaatlichen Behörden berücksichtigen sollten.

Die bloße Tatsache, dass die Anwendung von Gewalt durch die Polizei nicht negativ dargestellt wird, bedeute nicht, dass ihre Berichterstattung in den Medien keinen Schutz mehr genießen sollte, so der Gerichtshof. Vorliegend habe die einstweilige Verfügung nicht nur für das bereits veröffentlichte Filmmaterial gegolten, sondern auch für alle künftigen Videos. Darin sah der EGMR eine abschreckende Wirkung, die die deutschen Gerichte in ihrer Begründung hätten berücksichtigen müssen. Dies sei jedoch nicht geschehen. Zwar habe eine Abwägung der konkurrierenden Rechte – dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht des Einzelnen auf Achtung des Privatlebens – in Bezug auf das erste veröffentlichte Video stattgefunden, nicht jedoch hinsichtlich des zweiten und mit Blick auf jede weitere Verwendung des Filmmaterials. So habe das OLG, ohne den Beitrag zu einer öffentlichen Debatte zu bewerten, in einer allgemeinen Begründung festgestellt, dass selbst eine unverpixelte Berichterstattung, die die tatsächlichen Umstände des Polizeieinsatzes widerspiegelt, ohne den Polizeibeamten in negativer Weise darzustellen, nicht als Darstellung eines Aspekts der heutigen Gesellschaft angesehen werden könne und somit rechtswidrig sei. Dies könne nach Ansicht des EGMR aber zu einem unzulässigen Verbot zukünftiger Veröffentlichungen unbearbeiteter Bilder von Polizeibeamten bei der Ausübung ihres Dienstes ohne deren Zustimmung führen. Die einstweilige Verfügung sei daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.11.2023 14:37
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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