EGMR v. 19.3.2024 - 47238/19

Meinungsfreiheit - Portugal: Strafrechtliche Verurteilung wegen schwerer Verleumdung sowie Beleidigung einer juristischen Person

Die Vermutung über Gründe und mögliche Absichten Anderer stellt ein Werturteil und keine Tatsachenbehauptung dar. (Almeida Arroja gegen Portugal)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Wirtschaftswissenschaftler und Universitätsprofessor, der einmal wöchentlich in einer täglichen Nachrichtensendung des privaten Fernseh-Nachrichtensenders Porto Canal als politischer Kommentator auftrat. Am Abend des 25. Mai 2015 nahm er an einer Diskussionsrunde des Senders teil, in der es um den Baustopp eines pädiatrischen Flügels eines Krankenhaus in Porto ging. Der Beschwerdeführer, der zu dieser Zeit Vorsitzender einer Vereinigung war, die Mittel für den Flügel sammelte, äußerte sich dort kritisch über R., einen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, und die von diesem geleitete Anwaltskanzlei, C., die angeblich aus politischen Gründen hinter dem Baustopp stünden. R. sei das perfekte Beispiel für enge Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und Fachleuten. Der Beschwerdeführer warf R. vor, dazu beizutragen, dass kranke Kinder in eine „Baracke gepfercht“ seien, „anstatt ein ordentliches fünfstöckiges Gebäude zu bekommen“. Dies geschehe vor dem Hintergrund, ein zivilgesellschaftliches Projekt zu stoppen, um auf diesem Wege und durch seine Position als Politiker Kunden aus dem staatlichen Sektor für die Anwaltskanzlei des R. zu gewinnen. Der Beschwerdeführer bezog sich in seinen Ausführungen auf eine von C. für das Krankenhaus verfasste Absichtserklärung, die von der Vereinigung des Beschwerdeführers abgelehnt worden war. R. und C. erhoben Strafanzeige wegen schwerer Verleumdung und Beleidigung einer juristischen Person. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin erstinstanzlich wegen Beleidigung einer juristischen Person (C.) zu einer Geldstrafe sowie Ersatz des immateriellen Schadens verurteilt; das von beiden Seiten angerufene Berufungsgericht verurteilte den Beschwerdeführer zusätzlich wegen schwerer Verleumdung von R. zu einer Geldstrafe und ordnete Schadensersatz sowohl gegenüber R. in Höhe von 10.000 Euro als auch gegenüber C. in Höhe von 5.000 Euro an. Dagegen eingelegte Rechtsmittel blieben erfolglos.

Die Gründe:
Der Gerichtshof hielt fest, dass die Einschränkung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers das legitime Ziel verfolgte, den Ruf oder die Rechte anderer, nämlich von R. sowie der Anwaltskanzlei C. im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK zu schützen. Zwar sei das Recht auf den Ruf einer juristischen Person umstritten. Dennoch akzeptierte der EGMR vorliegend die entsprechende Argumentation der innerstaatlichen Behörden, die darin einen legitimen Grund für die Verurteilung des Beschwerdeführers gesehen hatten.

Notwendig sei die Verurteilung in einer demokratischen Gesellschaft hingegen nicht gewesen. Die Debatte um die Bauarbeiten am Krankenhaus sei von öffentlichem Interesse gewesen. R. sei sehr bekannt; bei C. handele es sich um eine renommierte Anwaltskanzlei. Bei den fraglichen Äußerungen habe es sich bei einer Gesamtschau mit der umfassenden Kritik des Beschwerdeführers an den Verbindungen zwischen Politik und öffentlicher Verwaltung um Werturteile gehandelt. Der EGMR betonte, dass eine Vermutung über die Gründe und möglichen Absichten Anderer ein Werturteil und keine Tatsachenbehauptung darstelle. Die fraglichen Äußerungen seien nicht weit verbreitet worden, da die Sendung, in der sie getätigt wurden, nicht viele Zuschauer hatte; zudem sei die Stadt Porto relativ klein.

Somit sei bereits die Verurteilung des Beschwerdeführers unverkennbar unverhältnismäßig gewesen. Darüber hinaus sei auch der Schadensersatz in diesem Fall offensichtlich unverhältnismäßig. Rufschädigung könne vorliegend derart hohe Beträge nicht rechtfertigen. Gerichtsurteile wie im Ausgangsverfahren seien geeignet, eine abschreckende Wirkung auf die Meinungsfreiheit zu entfalten.

Die innerstaatlichen Gerichte hätten die auf dem Spiel stehenden Rechte nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR abgewogen. Es habe für den Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers keine stichhaltigen und ausreichenden Gründe gegeben, und dem Ruf von R. und der Anwaltskanzlei C. sei unverhältnismäßig viel Gewicht beigemessen worden. Die innerstaatlichen Gerichte hätten daher ihren Ermessensspielraum überschritten.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.04.2024 10:51
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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