EGMR (Dritte Sektion), Urteil v. 07.05.2024 – 49014/16 (A.K. gegen Russland)

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Russland: Entlassung einer Lehrerin wegen in sozialen Medien veröffentlichter Fotos

Die sexuelle Orientierung einer Person kann nicht von ihren privaten und öffentlichen Äußerungen – etwa in sozialen Medien – isoliert werden, die offensichtlich geschützte Elemente des Privatlebens einer Person sind.

Der Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin arbeitete seit 2011 als Musiklehrerin an einer staatlichen Förderschule für Sonderschüler in St. Petersburg. Im November 2014 wurde sie zu einem Gespräch gebeten und über ein „Dossier“ über ihr Privatleben informiert, das von der Nichtregierungsorganisation „Eltern Russlands“ („Родители России“) erstellt worden war. Dieses Dossier war aus sozialen Medien zusammengetragen worden und enthielt unter anderem Bilder, auf denen die Beschwerdeführerin andere Frauen küsst und den Mittelfinger in die Kamera hält. Wegen „ihrer Propagierung einer nicht-traditionellen sexuellen Orientierung“ und weil sie den Beruf der Lehrerin in Verruf gebracht habe, wurde sie aufgefordert, ihren Dienst zu quittieren. Sie weigerte sich und machte gegenüber der Schule unter anderem geltend, dass es in der Vergangenheit keine Beschwerden über ihr Verhalten gegeben habe. Sie wurde dennoch wegen „unmoralischer Handlungen, die mit der weiteren Ausübung der Lehrtätigkeit unvereinbar sind“, umgehend entlassen.

Die dagegen gerichtete Klage der Beschwerdeführerin wurde vom zuständigen erstinstanzlichen Gericht abgewiesen, welches das Argument der Schule, dass jemand in einer „erzieherischen“ Position keine unmoralischen Handlungen begehen solle, für stichhaltig hielt. Die dagegen eingelegte Berufung und zwei Kassationsbeschwerden der Beschwerdeführerin waren erfolglos. Vor dem EGMR machte die Beschwerdeführerin unter Berufung auf Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK und Art. 14 (Verbot der Diskriminierung) i.V.m. Art. 8 EMRK geltend, dass ihr Vertrag aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung gekündigt worden sei.

Die Gründe:

Die Entscheidung, die Beschwerdeführerin zu entlassen, habe eine Beeinträchtigung ihres Rechts auf Achtung ihres Privatlebens dargestellt, so der EGMR. Die Entlassung aufgrund von Fotos, die nicht obszön waren, habe in einem groben Missverhältnis zu dem Ziel des Schutzes der Sittlichkeit gestanden. Auch habe die Schule in dieser Situation keine alternativen Maßnahmen zur Kündigung in Betracht gezogen.

Die sexuelle Orientierung einer Person könne nicht von ihren privaten und öffentlichen Äußerungen isoliert werden, die offensichtlich geschützte Elemente des Privatlebens einer Person gemäß Art. 8 EMRK seien. Das Posten von Fotos, die Intimitäten mit Partnern auf Reisen oder auf Partys zeigen, seien ein typischer Gebrauch sozialer Medien. Die feindselige Reaktion ihres Arbeitgebers auf die Beschwerdeführerin, die soziale Medien in gängiger Art und Weise genutzt habe, sei auf die mangelnde Akzeptanz ihrer Sexualität zurückzuführen. Ihre Entlassung von ihrem Arbeitsplatz habe daher eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung ihrer Rechte aus Art. 8 EMRK dargestellt, die einzig auf ihrer sexuellen Ausrichtung beruht habe.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Der Gerichtshof bejahte daneben einstimmig einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 21.05.2024 10:19
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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