EGMR (Fünfte Sektion), Entscheidung v. 16.5.2024 – 18536/18 (Gernelle und SA société d’exploitation de l’hebdomadaire Le Point gegen Frankreich)

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens/Meinungsfreiheit – Frankreich: Telefonüberwachung Dritter im Strafverfahren gegen Nicolas Sarkozy

Selbst bei einem behaupteten übermäßigen Eingriff in den Quellenschutz und in die Informationsfreiheit kann auch eine finanzielle Entschädigung einen angemessenen Rechtsbehelf darstellen.

Der Sachverhalt:

Die Beschwerdeführer sind Étienne Gernelle, Verlagsleiter des Nachrichtenmagazins und der Website Le Point, sowie das die beiden Medienplattformen herausgebende Unternehmen. Im April 2013 wurde eine gerichtliche Ermittlung über die Finanzierung des Präsidentschaftswahlkampfes von Nicolas Sarkozy im Jahr 2007 eingeleitet. Zum Zeitpunkt der Ermittlungen war Sarkozy nicht mehr im Amt, verfügte aber noch über Büroräume und Mitarbeiter, darunter seine Pressesprecherin W. Ein von W. genutzter Telefonanschluss wurde durch die Entscheidung eines Ermittlungsrichters unter Überwachung gestellt. Mehrere der auf dieser Leitung abgehörten Gespräche wurden transkribiert, darunter das Ermittlungsverfahren betreffende Telefonate zwischen W. und Herrn Gernelle sowie einem Journalisten von Le Point.

Im Oktober 2017 wurde ein Buch über die Sarkozy-Affäre veröffentlicht, in dem unter anderem die Überwachung des Telefons von W. dargelegt und lange Auszüge aus der Abschrift ihres Gesprächs mit Herrn Gernelle wiedergegeben werden. Die Überwachung wurde auch in einem Interview erwähnt, das von der Nachrichten-Website Mediapart veröffentlicht wurde.

Auf Ersuch der Anwälte der Beschwerdeführer um eine Erklärung bestätigte die zuständige Staatsanwaltschaft für Finanzdelikte unter Bedauern, dass vertrauliche Informationen aus einer Ermittlungsakte an die Öffentlichkeit gelangt waren, die Informationen gegenüber den Beschwerdeführern. Diese zielen mit ihrer Beschwerde vor dem EGMR auf eine Nichtzulassung der Abschriften der Telefonate im Strafverfahren gegen Sarkozy ab.

Die Gründe:

Der EGMR stellte einleitend fest, dass die Beschwerdeführer ihre Beschwerde vor ihm erhoben hatten, ohne vom innerstaatlichen Rechtsweg Gebrauch gemacht zu haben. Auch sei das beschwerdegegenständliche innerstaatliche Strafverfahren noch nicht abgeschlossen. Der Gerichtshof verwies daneben auf einen von der französischen Regierung vorgetragenen Rechtsbehelf, der darin bestehe, eine Staatshaftungsklage wegen des mangelhaften Funktionierens der öffentlichen Justiz aufgrund einer Tatsache oder einer Reihe von Tatsachen zu erheben, die dazu führen, dass die öffentliche Justiz nicht in der Lage ist, ihre Aufgabe zu erfüllen.

Die Beschwerdeführer hätten insbesondere geltend gemacht, dass der Ermittlungsrichter eine unnötige Telefonüberwachung angeordnet und unverhältnismäßige Mittel zur Ermittlung eingesetzt habe, wobei es sich nach Ansicht der Beschwerdeführer um einen Verfahrensmissbrauch und eine Beeinträchtigung des Quellenschutzes gehandelt habe. Auch sei die Abschrift der Gespräche des ersten Beschwerdeführers unrechtmäßig und für die Zwecke der Ermittlung nicht erforderlich gewesen.

Der EGMR hielt fest, dass der Vortrag der Beschwerdeführer im Rahmen einer Staatshaftungsklage hätte geprüft werden können und dass dieser Verfahrensweg den Beschwerdeführern auch ersichtlich offen gestanden habe. Dies hätte es den innerstaatlichen Gerichten ermöglichen können, sich mit dem Inhalt der Konventionsbeschwerde der Beschwerdeführer zu befassen und über die Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit der beschwerdegegenständlichen Maßnahme zu entscheiden. Auch hätte eine Staatshaftungsklage die Möglichkeit geboten, das mangelhafte Funktionieren der öffentlichen Justiz im Wege der Entschädigung abzustellen. Da die Beschwerdeführer diesen Weg nicht beschritten hatten, hätten sie es versäumt, die innerstaatlichen Gerichte in die Lage zu versetzen, ihre grundlegende Rolle in dem durch die EMRK geschaffenen Schutzmechanismus zu spielen.

Das Argument der Beschwerdeführer, wonach eine Staatshaftungsklage unwirksam sei, den beanstandeten Verstoß abzustellen, da dadurch weder eine Überwachungsmaßnahme verhindert oder beendet werden oder die Nichtzulassung der damit zusammenhängenden Abschriften im Strafverfahren erreicht werden könne, ließ der EGMR nicht gelten. Es entspreche dem Wesen und der Logik einer geheimen Überwachung, dass nicht nur die Überwachung selbst, sondern auch die begleitende Überprüfung ohne das Wissen des Betroffenen erfolgt, wenn eine solche Maßnahme angeordnet und durchgeführt wird. Zwar habe der Gerichtshof in früheren Fällen festgestellt, dass die Nichtzulassung oder der Ausschluss rechtswidrig erlangter Beweismittel eine angemessene Abhilfe für eine Beeinträchtigung des Privatlebens einer Person, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, darstellen könne. Allerdings sei eine solcher Rechtsbehelf nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs in Bezug auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Unter bestimmten Umständen, auch bei einem behaupteten übermäßigen Eingriff in den Quellenschutz und die Informationsfreiheit, könne auch eine finanzielle Entschädigung einen angemessenen Rechtsbehelf darstellen. Dies sei vorliegend, wo es um Streithelfer in einem Strafverfahren ging, die sich darüber beschwerten, dass ihre Rechte im Laufe der Ermittlungen verletzt worden seien, ebenso der Fall. Eine gegenteilige Entscheidung könne zudem die Rechtssicherheit und den ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens in unangemessener Weise beeinträchtigen. Jedenfalls seien auch bei Zweifeln an der Wirksamkeit eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs die innerstaatlichen Gerichte anzurufen.

Mangels Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs erklärte der EGMR die Beschwerde nach Art. 8, 10 und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) EMRK einstimmig für unzulässig.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.06.2024 09:18
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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