EGMR (Zweite Sektion), Urteil v. 14.05.2024 – 25259/20 (Oleg Balan gegen Republik Moldau)

Verleumdungsklage eines Regierungsmitglieds wegen Äußerungen eines Oppositionspolitikers auf dessen persönlicher Facebook-Seite

Der Verweis auf die anwendbaren Grundsätze der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR durch innerstaatliche Gerichte schließt nicht zwangsläufig einen Verstoß gegen die Gewährleistungen der EMRK aus.

Der Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war von Februar 2015 bis Januar 2016 moldawischer Innenminister. Im November 2015 veröffentlichte U., Vorsitzender einer Oppositionspartei und Lokalpolitiker, eine „Informationsnote“ auf seiner persönlichen Facebook-Seite. Das Dokument trug den Briefkopf des nationalen Sicherheits- und Informationsdienstes (SIS), war auf Mai 2015 datiert und an den Präsidenten der Republik Moldau gerichtet, der darin angeblich auf strafbare Handlungen des Beschwerdeführers aufmerksam gemacht wurde. Die Nachricht über den Facebook-Post des U. wurde von mehreren Nachrichtenportalen und anderen Medien in der Republik Moldau publiziert. Daraufhin veröffentlichte der SIS eine Erklärung, in der er feststellte, dass er nichts mit der Note zu tun und sie nicht an den Staatspräsidenten geschickt habe. Das Präsidialamt machte eine Erklärung öffentlich, wonach es das Dokument nie erhalten habe.

Der Beschwerdeführer forderte U. und dessen Partei auf, offiziell zu erklären, dass die in dem Dokument enthaltenen Informationen falsch seien. Zudem forderte er von beiden eine öffentliche Entschuldigung und eine Entschädigung in Höhe von 500.000 Moldawischen Lei (MDL – damals etwa 23.280 Euro). Da er keine Antwort erhielt, erhob er Klage, die sich neben U. und dessen Partei auch gegen die Medien, welche die verleumderischen Aussagen verbreitet hatten, richtete. Vor dem erstinstanzlichen sowie dem Berufungsgericht war der Beschwerdeführer erfolgreich, wobei der Entschädigungsbetrag auf lediglich 50.000 MDL festgelegt wurde. Den beklagten Medien wurde die Veröffentlichung eines Widerrufs zur Information der Öffentlichkeit darüber, dass die klagegegenständlichen Informationen falsch gewesen seien, auferlegt. Letztinstanzlich wurden die Urteile der Vorinstanzen jedoch vom Obersten Gerichtshof unter Verweis auf den durch die Moldauische Verfassung und die EMRK gewährleisteten Schutz der Meinungsfreiheit und mit dem Argument, dass die Veröffentlichung auf Facebook eine journalistische Tätigkeit darstellen könne, aufgehoben und die Ansprüche des Beschwerdeführers zurückgewiesen.

Die Gründe:

Der EGMR anerkannte, dass der Oberste Gerichtshof auf die anwendbaren Grundsätze der EMRK und die Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen hatte. Dennoch verneinte der EGMR, dass der Oberste Gerichtshof ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Rechten gemäß der EMRK hergestellt hatte. Insbesondere habe der Oberste Gerichtshof den U. als Investigativjournalisten und „öffentliche Person“ behandelt und beschlossen, die für Investigativjournalisten geltende Vermutung der Redlichkeit auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Allerdings habe der Oberste Gerichtshof es versäumt, seine eigene sorgfältige Analyse der Aspekte des Falls im Hinblick auf den Schutz des Rechts des Beschwerdeführers auf seinen guten Ruf vorzunehmen. Diesbezüglich betonte der EGMR insbesondere die Frage, ob die nicht überprüfte Informationsnote zumindest teilweise mit bekannten oder überprüften Informationen übereingestimmt hatte. Daneben hätte der Oberste Gerichtshof zur ausgewogenen Urteilsfindung prüfen müssen, ob U. versucht hatte, die Echtheit der Notiz oder irgendeinen ihrer Inhalte zu überprüfen, so der EGMR weiter. Auch die Art und Weise, in der U. seinen Lesern den Bericht präsentiert hatte – insbesondere sein Versäumnis, sie auf die fehlende Überprüfung der Quelle und des Inhalts der Note hinzuweisen – und das mögliche Vorliegen irgendwelcher durch U. veröffentlichter Folgeinformationen hätten berücksichtigt werden müssen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.07.2024 13:00
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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