EGMR (Dritte Sektion), Urteil v. 04.06.2024 – 36681/23 (Bosev gegen Bulgarien)

Verfahren vor einem Gericht, über dessen berichterstattende und vorsitzende Richterin der beklagte Journalist kritisch berichtet hatte

Ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren kann bewirken, dass die gerichtliche Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nicht mit wirksamen und angemessenen Garantien gegen Willkür einhergeht, womit sie nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

Der Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist ein auf Rechtsberichterstattung spezialisierter Journalist, der im beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt für die zum bulgarischen Verlag Ikonomedia gehörende Wirtschafts-Wochenzeitung Capital tätig war. In zwei Fernsehsendungen äußerte er sich im Januar 2015 kritisch über den damaligen Direktor der bulgarischen Finanzaufsichtskommission (FSC), nachdem diese mehrfach hohe Geldstrafen gegen Ikonomedia, dessen Mehrheitsaktionär sowie andere seiner Unternehmen verhängt hatte. Allein für zwei in Capital veröffentlichte Artikel, die die FSC als Versuche der Manipulation der Finanzmärkte angesehen hatte, wurde eine Geldstrafe von umgerechnet etwa 76.000 Euro festgelegt. Diesen Geschehnissen vorausgegangen war ein Bericht der zu Ikonomedia gehörenden Nachrichtenseite Dnevnik aus dem Jahr 2013, wonach der Direktor der FSC als Zeuge in einem Geldwäscheprozess vorgeladen worden war, weil er angeblich Dokumente unterzeichnet hatte, die den Transfer von Erlösen aus dem Drogenhandel erleichterten.

Infolge der im Fernsehen getätigten Äußerungen des Beschwerdeführers erhob der Direktor der FSC gegen diesen Strafanzeige wegen Verleumdung. Der Beschwerdeführer wurde wegen seiner Aussage, der Direktor der FSC habe beschlossen, die von ihm geleitete Institution zu nutzen, um Capital und Dnevnik zu bestrafen, der Verleumdung für schuldig befunden und zur Mindestgeldstrafe von umgerechnet rund 511 Euro sowie zu Kosten und Auslagen in Höhe von umgerechnet etwa 320 Euro verurteilt. Der Beschwerdeführer legte Rechtsmittel ein. Während des anschließenden Verfahrens vor dem Berufungsgericht stellte er zwei Anträge auf Ablehnung der berichterstattenden und vorsitzenden Richterin K. Er machte geltend, dass K. von der Teilnahme an dem Fall ausgeschlossen werden solle, weil er in der Vergangenheit mehrere Artikel in der Presse veröffentlicht habe, die ihre Arbeit kritisiert und ihre Integrität als Richterin in Frage gestellt hätten. Beide Anträge wurden abgelehnt; die Berufung wurde zurückgewiesen. Darüber hinaus wurde der Beschwerdeführer wegen einer weiteren Äußerung, die er in der fraglichen Fernsehsendung getätigt hatte, in einem zusätzlichen Anklagepunkt der Verleumdung schuldig gesprochen.

Die Gründe:

Mit Blick auf Art. 10 EMRK hielt der EGMR fest, dass die Verhängung einer Geldstrafe gegen den Beschwerdeführer eine Beeinträchtigung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung darstellte. Diese Maßnahme sei auch im bulgarischen Strafgesetzbuch vorgesehen, um den guten Ruf oder die Rechte anderer zu schützen. Zur Frage, ob die Verurteilung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen war, vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass die Äußerungen, wegen derer der Beschwerdeführer verurteilt worden war, zwar ein grundsätzliches Problem betrafen, aber dennoch Tatsachenbehauptungen enthielten, welche die berufliche Integrität des damaligen Direktors der FSC in Frage stellten. Es sei daher angemessen gewesen, vom Beschwerdeführer zu verlangen, dass er die Wahrheit seiner Behauptungen in einem Verleumdungsverfahren beweise. Der EGMR betonte daneben, dass es sich bei der vom Gericht verhängten Sanktion um eine Geldstrafe in der gesetzlich vorgesehenen Mindesthöhe handelte, zu der ein Betrag für die Gerichtsgebühren und die der Gegenpartei entstandenen Kosten und Auslagen hinzukam. Der Gerichtshof bewertete die Strafe als relativ bescheiden.

Der EGMR hatte jedoch vor seiner Befassung mit Art. 10 EMRK bereits einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) festgestellt. Unter Verweis auf seine im Rahmen der dort vorgenommenen Prüfungen wiederholte der Gerichtshof, dass das Gericht, welches das Rechtsmittel des Beschwerdeführers in letzter Instanz geprüft und abgewiesen hatte, aufgrund der Teilnahme der Richterin K. an dieser Prüfung kein unparteiisches Gericht gewesen sei. Im Lichte der Erwägungen, die ihn zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK veranlasst hatten, vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass die Art und Weise, in der die Sanktion gegen den Beschwerdeführer verhängt worden war, eine der wesentlichen Garantien für ein faires Verfahren nicht gewährleistet habe. Die Einschränkung des Rechts des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung sei daher nicht mit wirksamen und angemessenen Garantien gegen Willkür einhergegangen. Selbst wenn die vom beklagten Staat angeführten Gründe stichhaltig wären, reichten sie nicht aus, um nachzuweisen, dass die fragliche Beeinträchtigung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen war.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Der EGMR bejahte daneben einstimmig eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.07.2024 13:05
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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